Mittwoch, 20. Mai 2015

"Mistero Buffo“ und "Obszöne Fabeln“

Dario Fo, Verlag der Autoren, 1997,
ISBN 978-3-88661-191-1, 
CHF 24.50,
Dario Fo in aller Munde! Dieser Satz passt einerseits zum wortgewichtigen Erzähltheater des italienischen Tausendsassa und Literatur-Nobelpreisträger Dario Fo, als auch zu seiner Popularität und zur weiten Verbreitung seiner Geschichten.
„Mistero Buffo“ und „Obszöne Fabeln“ gehören zu seinen bekanntesten Geschichten und beinhalten mehrere Kurzgeschichten, die im vorliegenden Buch gedruckt wurden. Natürlich erst nach einer „Hundearbeit“, wie es Franca Rame, die Ehefrau von Dario Fo, salopp ausdrückt, welche die gespielten Stücke ihres Mannes in minutiöser Handarbeit anhand von Tonaufnahmen aufschreiben musste. Und ins Deutsche übersetzt hatte sie danach P.O. Chotjewitz, welcher sich auch einiges einfallen lassen musste, um die Stücke in ein verständliches Deutsch umzuschreiben. Denn die Originalgeschichten wurden in weiten Teilen Italiens im Mittelalter von Spielleuten auf öffentlichen Plätzen erzählt und waren ein Gemisch aus verschiedensten Dialekten und auch auch Gramelots. Die Vermischung von verschiedenen Dialekten zu einer Fiktivsprache und der Einsatz von Gramelots („Pingu“-Sprache, Laute) hatte den Grund, dass sie in verschiedensten Dialektregionen spielten und überall verstanden werden mussten.


Die obszönen Fabeln vereinen drei Geschichten, die ihren Stoff aus mittelalterlichen und antiken Volkserzählungen beziehen. In all diesen Geschichten wird die Obszönität als befreiende Waffe gegen Machtansprüche eingesetzt. Schamlosigkeit und Poesie verbinden sich zu höchst subversiven, lustvollen Texten.
Mistero Buffo ist ein weltliches Mysterienspiel, in dem Jesus und Maria nicht als verehrungswürdige Heilige, sondern als tatkräftige Leute aus dem einfachen Volk auftreten. Mistero Buffo bietet eine besondere Art von frivolem Geschichtsunterricht, der die grossen Ereignisse aus der Perspektive des kleinen Mannes betrachtet und die Betroffenen zu witzigem Wort kommen lässt.
Unabhängig davon, ob ihr das Buch gelesen habt oder nicht, ihr könnt die Geschichten geniessen, wenn der bekannte Schweizer Schauspieler Gian Rupf sie am 6. Juni 2015 auf der Wortreich-Bühne erzählt. Unterbrochen wird er in seinem Solotheater von Elisabeth Sulser mit ihren verschiedenen Instrumenten (auch mittelalterliche) und vor allem durch die 4 Gänge feinstem italienischen Essen! Ein einmaliger unterhaltsamer Abend - sofort anmelden! Infos unter www.wortreich-glarus.ch
Christa Pellicciotta Buchhandlung Wortreich

Viel Vergnügen und bis zum nächsten Mal!
Christa Pellicciotta
PS
Natürlich erhältlich in der Buchhandlung Wortreich in Glarus



Montag, 4. Mai 2015

Die Verlorene - ein Frauenroman nach einem historischen Schweizer Kriminalfall


Michèle Minelli, Aufbau Verlag
ISBN: 978-3-351-03595-2, CHF 35.50
Was mir gefällt an Michèle Minellis Roman ist das Subtile, kein Schwarz-Weiss, das wäre zu einfach und würde der damaligen Zeit nicht gerecht werden. Mit der Lektüre verstehen wir eine Gesellschaft um die Jahrhundertwende in der ländlichen Schweiz, und wir sehen auch, was uns die Errungenschaften und Veränderungen in den letzten Jahrzehnten gebracht haben.

Erschreckend erschien mir, wie die gutmütige, verträumte Frieda Keller in der Kindheit unbefangen war, was sie aber für eine (damals für Mädchen normale) Erziehung genoss: Mädchen, und später Frauen, hatten brav zu sein, dem Vater zu gehorchen, keine eigene Meinung zu haben, ja niemanden verärgern, vor allem nicht den Vater und auch nicht die Brüder. Die landesübliche Bezeichnung für das weibliche Wesen war damals meist "die Weibsbilder". Sündig waren sie sowieso, da konnte sich auch eine Frieda Keller noch so anständig verhalten, da reichte ein Übergriff von Seiten des Arbeitgebers und schon sah sich die Gemeinschaft in ihrem Bild bestätigt, dass man mit den Weibern nur Probleme hat... Tja, deshalb getraute sich die "gut erzogene" Frieda auch nicht, zu Hause ihr Leid zu klagen, da hätte der Vater sich geärgert, das Mädchen war wahrscheinlich sowieso schuld, und die Mutter hätte auch nicht richtig zu helfen gewusst, die war genauso erzogen worden - und wie man nebenbei erfährt, hatte auch diese anno 1866 "etwas auf dem Gewissen". Wenn ich mir vorstelle, wie viele Kinder damals getötet wurden, offiziell wusste man einige Fälle, aber die meisten blieben im Dunkeln, wurden in den Familien schandhaft verschwiegen...
Frieda hätte zwar eine Vaterschaftsklage machen können, aber das Gesetz kannte derart viele Ausnahmen, dass dies praktisch aussichtslos war. Z. B. konnte man keinen verheirateten Mann anzeigen, ausser man könnte beweisen, dass man davon nichts gewusst habe... usw. usw.

Auf jeden Fall empfehle ich jedem, dieses Buch zu lesen, als hochspannenden Roman, als Zeitdokument, als Verständnis für unsere Vergangenheit und Wurzeln - und unsere gute neue Zeit! Es gab auch damals sehr viele "gute" Leute, nur brauchten die Veränderungen in der Gesellschaft, die Gesetzesänderungen usw. sehr viel Zeit und deshalb dauerte es noch lange, bis diese Missstände endlich ein Ende nahmen.

Als Abschluss möchte ich noch erwähnen, falls jemand Angst vor brutalen Geschichten hat: Es kommen keine Folterszenen vor, es sind auch Zitate aus Originaldokumenten drin, und dies nimmt dem Buch eine gewisse Schärfe, die ich (deshalb sag ichs euch) befürchtet hatte und die mich zuerst von der Lektüre abgehalten hatte!

Christa Pellicciotta Buchhandlung Wortreich
Christa Pellicciotta
PS Natürlich erhältlich in der Buchhandlung Wortreich in Glarus