Mittwoch, 25. Februar 2015

Premiere im Blogmilieu

Einerseits ist in unserer Buchhandlung Premiere, indem dass wir seit August 2014 eine erste Buchhändlerin in Ausbildung haben (früher sagte man Lehrtochter, noch früher Stift...). Wir haben sehr Freude an ihr und sie (sagt sie zumindest) an uns!
Heutige Premiere ist natürlich der erste Blog-Eintrag und natürlich lassen wir der ehrenwerten Lehrtochter gleich den Vorrang - so macht auch die umständliche Einleitung Sinn ;-)

Schliesslich lesen die jungen Leute nicht nur Krimis, Thriller und Shades of Grey (das lesen nämlich die Alten!) und in der Buchhändler-Ausbildung war es ein gemeinsames Klassenprojekt, dass man eine Rezension verfassen soll. Unsere plus zwei aus ihrer Klasse hatten Roland Butis "Das Flirren am Horizont" rezensiert und hier möchten wir diese gerne publizieren. Keine Angst, wir sind drei schreibfaule Mitarbeiter und überhaupt nicht geeignet, um einen Blog zu betreiben... Deshalb wird das sicher der einzige lange Text sein, den man hier zu Gesicht bekommt :-)



Der Verlust der kindlichen Unschuld

Das Flirren am HorizontRezension zu Roland Butis „Das Flirren am Horizont"

Sommer 1976, die extreme Hitze und Trockenheit dieses Sommers wird als „Europas grosse Dürre" in die Geschichte eingehen. Unter der erbarmungslosen Sonne verdorren Felder, das Vieh stirbt weg und Existenzen werden vernichtet. In diesem dunklen Kapitel der Schweizer Landwirtschaft spielt Roland Butis neuster Roman „Das Flirren am Horizont".

Das dritte Buch des Lausanner Autors ist sein Erstes ins Deutsche übersetzte Werk (Original Titel: Le milieu de l’horizon). Buti erzählt die tragische Geschichte der Bauernfamilie Suter, deren unterdrückten Bedürfnisse und Probleme zusammen mit der Hitze aufzulodern beginnen. Protagonist und Ich-Erzähler ist der 13-jährige Sohn Auguste genannt „Gus". Er berichtet in der Retrospektive von den Ereignissen jenes Sommers, in dem die Behörden den Notstand ausriefen, das Militär die vertrockneten Felder bewässerte und seine Mutter die Familie wegen einer anderen Frau verliess.


Roland Buti beschreibt mit seiner wunderbar bildhaften Sprache eine Familie, deren Mitglieder scheinbar unterschiedlicher nicht sein könnten.

Gus ist ein verträumter Junge, der viel alleine durch die Landschaft zieht und sich seiner Leidenschaft, phantastische Zeichnungen anzufertigen, widmet. Er hilft auch viel auf dem Hof mit, wie es bei Bauernfamilien so üblich ist. In vielerlei Hinsicht ist er ein typischer Junge auf der Schwelle zum Erwachsenwerden und die Ereignisse jenes Sommers tragen ihn mit aller Kraft über diese Schwelle hinweg.

Der Vater, der kaum jemals ein Wort spricht und sich grösstenteils durch Seufzer und Gesten ausdrückt, ist ein Opfer der Modernisierung der Landwirtschaft. Während sein Vater noch ganz der traditionelle Bauer war, der mit Pferd statt Traktor die Felder pflügte, investiert der Vater sein ganzes Vermögen in den Aufbau einer protoindustriellen Hühnerhalle. Die unbändige Hitze jedoch raffte die Hühner reihenweise dahin und Gus muss mitansehen wie sein Vater dem existentiellen Aus immer näher rückt.

Die Mutter ist ein zart besaitetes Wesen, das jung geheiratet hat, jedoch nicht nur wegen ihrer vielen Allergien nicht in das ländliche Leben einer Bauernfamilie zu passen scheint. Im Verlauf des Buches entfaltet sich zunehmend ihr wahres Ich. Sie lernt eine Frau kennen, die zunächst als Freundin auf den Hof kommt, um dort vorübergehend zu leben. Die Freundin schläft jedoch nicht, wie man Gus weis zu machen versucht, im Gästezimmer, sondern nächtigt zusammen mit der Mutter im Elternschlafzimmer und der Vater ist der, der ins Gästezimmer verbannt wird. Auch sucht sich die Mutter eine Arbeit in der Stadt und verbringt immer weniger Zeit in Haus und Hof. Als sich die Situation immer mehr zuspitzt und schliesslich in einem gewalttätigen Streit eskaliert, verlässt die Mutter zusammen mit der anderen Frau die Familie, um ein neues Leben zu beginnen.

Die Schwester erscheint eher als Randfigur der Geschichte. Sie scheint sich, ähnlich wie die Mutter, gegen das Landleben zu sträuben und sucht einen Weg sich diesem kargen Dasein zu entziehen. Sie ist eine begabte Geigerin und sieht darin ihre Chance aus dem Bauernleben auszubrechen und sich der modernen städtischen Welt anzuschliessen.

Das letzte Mitglied der Familie ist Rudy der geistig zurückgebliebene Hofknecht. Er ist ein entfernter Verwandter der Familie, den der Vater aufgenommen hat. Er kümmert sich mit viel Hingabe um die Tiere und erledigt auch sonst die Aufgaben, die man ihm zuteilt mit grosser Sorgfalt. Er lebt jedoch die meiste Zeit in seiner eigenen Welt, die sehr im Einklang mit der Natur ist und in der er davon träumt eines Tages eine Frau für sich zu finden. Doch auch diesem einfachen Gemüt scheint das Schicksal nicht wohl gesonnen zu sein und die tragischen Ereignisse jenes Sommers nehmen ihren Lauf.

Nachdem die Mutter die Familie verlassen hat, verfällt der Vater in eine lethargische Depression und Gus und Rudy stehen hilflos dem endgültigen Verfall des Hofes gegenüber und gerade als alles verloren scheint, wendet sich das Blatt aufs Neue. Als Gus mit einem Mädchen aus dem Dorf in einen Wassertank hinabsteigt, erfährt nicht nur er einen Umbruch, auch die wochenlange Hitze entlädt sich schlussendlich in einem gewaltigen Gewitter von zerstörerischen Ausmassen. In einem verzweifelten Versuch die letzten Hühner zu retten, eilen Gus, Rudy und der Vater, der scheinbar durch die Gewalt des Sturmes zu neuem Leben erweckt wurde, zum Hühnerstall. Doch jede Rettung kommt zu spät und Rudy wird, zusammen mit den letzten Überresten der einst riesigen Hühnerschar bei seinem Versuch jene zu retten, unter dem einstürzenden Dach begraben und nichts ist mehr so wie es einmal war.

Roland Buti setzt diese rührende Geschichte aus Elementen seiner eigenen Familiengeschichte zusammen, wodurch sie umso mehr an Tiefgang erhält. Zurecht wurde Buti für sein Werk Anfang 2014 der Schweizer Literaturpreis verliehen. Das Buch schlägt eine Brücke zwischen alter und neuer Welt. Während das ländliche Leben sehr traditionell beschrieben wird, werden gesellschaftliche Fragen wie die Homosexualität der Mutter sehr modern behandelt. Ihre Vorliebe für Frauen wird niemals zum zentralen Thema gemacht, genau so wie der Umgang mit dem geistig zurückgebliebenen Rudy. Es scheint, als ob die Extreme des Wetters alle anderen gesellschaftlichen und politischen Kontroversen zu Nebensächlichkeiten macht.

Alles in allem ist es ein ausserordentliches Buch, das mit viel Wortgewandtheit und Bildkraft das Schicksal einer Familie schildert und jedem der ein Fan der schönen Literatur ist, wässrige Augen bescheren wird.

(Buti, Roland; Das Flirren am Horizont; 2014; Nagel & Kimche im Hanser Verlag; München; ISBN 987-3-312-00636-6; 26.90CHF)

Text von Johanna Lehmann, Jussara Brossi, Annina Hilty